CHRISTINE KRÖGER

Wir werden immer dicker!

Deutschland hat ein dickes Problem: Zu viele Menschen haben zu viele Pfunde auf den Rippen. Die Statistiken lügen leider nicht – wir werden immer dicker und die Gesundheitsprobleme häufen sich. 

Wie in vielen anderen Länder auch, steht Deutschland vor der zunehmenden Herausforderung mit Blick auf die Gesundheit seiner Bürger: das Übergewicht. Dieses Phänomen ist nicht über Nacht entstanden, sondern hat sich über Jahrzehnte hinweg entwickelt.

Heute stehen wir vor der Herausforderung, diesen Trend nicht nur zu stoppen, sondern umzukehren. Doch bevor wir Lösungen suchen, müssen wir verstehen, wie es dazu kam und wo wir aktuell stehen. 

Dieser erste Beitrag meiner Blog-Serie beschäftigt sich mit dem aktuellen Ist-Zustand des Übergewichts, wirft einen Blick zurück in die Geschichte dieser Entwicklung und erklärt, wie es dazu kommen konnte.

Der aktuelle Stand

Laut dem Robert Koch-Institut sind etwa 67% der Männer und 53% der Frauen übergewichtig, ein erheblicher Teil davon leidet sogar an Adipositas. Diese Entwicklung betrifft allerdings nicht nur Erwachsene, sondern zunehmend auch Kinder und Jugendliche. Der besorgniserregende Trend zu Übergewicht unter Kindern und Jugendlichen zeigt sich in den Zahlen des Robert Koch-Instituts: Bei 3- bis 17-jährigen liegt der Anteil der Übergewichtigen bei alarmierenden 30 Prozent. Interessanterweise nimmt der Anteil übergewichtiger Kinder in der Altersgruppe 14–17 Jahre leicht ab, bleibt jedoch auf einem bedenklich hohen Niveau. Das Abschütteln überschüssiger Kilos ist oft schwieriger als angenommen, insbesondere angesichts der allgegenwärtigen Verführungen durch Fast Food und Softdrinks.

Die KiGGS Welle 2-Studie des Robert Koch-Instituts, durchgeführt zwischen 2014 und 2017, liefert erschreckende Erkenntnisse über den Zustand der Gesundheit unserer Kinder und Jugendlichen in Deutschland. Gemäß den Richtlinien des IOTF-Referenzsystems befindet sich ein besorgniserregend hoher Anteil dieser Altersgruppe im Kampf gegen Übergewicht und Adipositas. Die Daten belegen: Halbherzige Maßnahmen reichen nicht aus.

Die Auswirkungen von Übergewicht sind vielfältig und betrifft auch das Gesundheitssystem und die Wirtschaft. Krankheiten wie Typ-2-Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und verschiedene Formen von Krebs sind direkt mit Übergewicht verbunden und führen zu hohen Kosten im Gesundheitswesen. Die Universität Hamburg hat in einer Studie die exakten Kosten von Adipositas und deren Folgeerkrankungen in Deutschland ermittelt. Demnach belaufen sich die gesamtgesellschaftlichen Kosten der Adipositas, wenn man direkte und indirekte Kosten zusammenfasst, auf etwa 63 Milliarden Euro pro Jahr. Die direkten Kosten, also jene, die unmittelbar mit der Behandlung von Adipositas und den damit verbundenen Komorbiditäten (Doppel- oder Mehrfachdiagnosen) zusammenhängen, summieren sich auf etwa 29 Milliarden Euro. Die indirekten Kosten, die durch Faktoren wie Verlust von Lebensqualität, Produktivitätsverlust durch krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit oder vorzeitige Berentung entstehen, belaufen sich auf etwa 34 Milliarden Euro. 

Adipositas hat inzwischen das Rauchen als Todesursache Nr. 1 abgelöst. 

Historischer Überblick

Um zu verstehen, wie es zu dieser Situation gekommen ist, werfen wir einen Blick in die Vergangenheit. Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte Deutschland einen wirtschaftlichen Aufschwung, der als „Wirtschaftswunder“ bekannt ist. Mit dem steigenden Wohlstand veränderten sich auch die Lebens- und Essgewohnheiten. 1958 markierte einen Wendepunkt in der Geschichte unserer Ernährung. Das Zeitalter der Fertiggerichte begann mit der Markteinführung von Eierravioli aus der Dose. Das Produkt wurde schnell zum Inbegriff des Fertiggerichts und symbolisierte eine neue Ära in der Lebensmittelindustrie. Eierravioli aus der Dose waren nicht nur ein Novum in Bezug auf Bequemlichkeit und schnelle Zubereitung, sondern spiegelten auch den wachsenden Trend hin zu industriell verarbeiteten Lebensmitteln wider.

Bereits ein Jahr später tauchten erstmals Fischstäbchen in Deutschland auf und etablierten sich als beliebtes, einfach zuzubereitendes Tiefkühlprodukt, das vor allem bei Kindern gut ankam. Die erste Tiefkühlpizza wurde bei uns ab 1970 serviert und brachte »ein Stück Italien« in die deutschen Haushalte. Und so nahm die Entwicklung und Veränderung der Konsumgewohnheiten ihren Lauf. Fertigprodukte und süße Getränke, wie der 1973 fertig gemischte Eistee, kamen in die Regale der Lebensmittelgeschäfte und prägten zunehmend den Markt und unsere Esskultur. Die moderne Welt überflutete die Supermarktregale mit verarbeiteten Lebensmitteln.

Bereits in den 1980er Jahren wurde dann deutlich, dass Übergewicht zu einem ernsthaften Problem geworden war. Trotz zahlreicher Aufklärungskampagnen und Gesundheitsinitiativen in den folgenden Jahrzehnten hat sich die Situation bis heute nicht wesentlich verbessert. Ein Grund dafür ist die Verfügbarkeit und der niedrige Preis von hochkalorischen, aber nährstoffarmen Lebensmitteln. Zudem macht die Lebensmittelindustrie durch gezieltes Marketing ungesunde Lebensmittel besonders attraktiv.

Die Rolle verarbeiteter Lebensmittel

In der Debatte um Übergewicht und Adipositas spielt die Qualität der konsumierten Lebensmittel eine Schlüsselrolle. Im Fokus stehen dabei hochverarbeitete Lebensmittel, die in deutschen Supermärkten die Regale dominieren. Diese Produkte sind oft vollgepackt mit Zucker, gesättigten Fetten und künstlichen Zusatzstoffen, während wichtige Nährstoffe auf der Strecke bleiben.

Inzwischen sind über 80 Prozent der im Handel angebotenen Nahrungsmittel verarbeitet, angereichert mit einer Vielzahl von Zusatzstoffen, deren langfristige Auswirkungen auf den menschlichen Organismus noch nicht vollständig verstanden sind. Diese Lebensmittel, die für Bequemlichkeit und lange Haltbarkeit optimiert sind, bringen häufig unseren Stoffwechsel und unsere natürlichen Ernährungsgewohnheiten durcheinander. Sie enthalten oft übermäßig Zucker, Salz und Fette sowie künstliche Zusätze, die den Geschmack verstärken und die Haltbarkeit verlängern, aber zugleich das Risiko für verschiedene Gesundheitsprobleme erhöhen.

Der Clou: Diese Lebensmittel haben viele Kalorien, machen aber nicht lange satt. Das Ergebnis? Wir essen mehr, als wir brauchen. Noch dazu bringen die ganzen Chemikalien, wie Konservierungsstoffe und Geschmacksverstärker, unseren Hunger-Satt-Rhythmus durcheinander und kurbeln den Appetit an. Diese Mischung ist Gift für unsere Waage und unsere Gesundheit.

Abgesehen davon mangelt es diesen industriellen Produkten absichtlich an wertvollen Inhaltsstoffen natürlicher Nahrung, wie zum Beispiel Ballaststoffen, Vitaminen und Mineralien. Diese würden normalerweise ein natürliches Sättigungsgefühl erzeugen und als biologische Appetitzügler wirken. Doch dieser Effekt ist logischerweise von der Industrie nicht gewünscht.

Tatsächlich kann Junk Food eine Sucht erzeugen, ähnlich wie Drogen. Forschungen, darunter eine Studie des Scripps Research Institute. Die, die bereits 2010 erschien, belegen dies. Inhaltsstoffe wie hochkonzentrierter Fruktosesirup, Mononatriumglutamat, hydrierte Öle und raffiniertes Salz in verarbeitenden Lebensmitteln können ähnliche Effekte auf das Gehirn haben wie Kokain. Drogen lösen im Gehirn die Freisetzung von Dopamin, dem Glückshormon, aus. 

Wissenschaftliche Studien haben bestätigt, dass bei Drogenabhängigen und Personen, die süchtig nach Junk Food sind, ähnliche Prozesse im Gehirn ablaufen. Beide Formen der Abhängigkeit involvieren das Belohnungssystem des Gehirns, insbesondere die Freisetzung des Neurotransmitters Dopamin. Die konstante Stimulation dieses Belohnungssystems, sei es durch Drogenkonsum oder den übermäßigen Verzehr von hochkalorischer Nahrung, führt zu einer verminderten Empfindlichkeit der Dopaminrezeptoren. Dieser Prozess bewirkt eine Toleranzentwicklung. Immer höhere Mengen an Stimulanzien werden benötigt, um das gleiche Gefühl der Zufriedenheit oder des Glücks zu erreichen. 

Wahrscheinlich denken wir gar nicht darüber nach, dass Fertiggerichte, Würste, Chips und Co. hochverarbeitet sind. Auf der Packung steht ja schließlich nichts davon. Dann kann es so schlecht ja nicht sein, oder? Herzlich willkommen in unserer adipogenen Welt, wo überall kalorienreiche Leckereien lauern, die es uns fast unmöglich machen, gesunde Entscheidungen zu treffen. Unsere Erfrischungsgetränke? Gesüßt bis zum Gehtnichtmehr. Die Inhaltsstoffe verarbeiteter Lebensmittel? Ein Rätsel für jeden Durchschnittsbürger, der keinen Abschluss in Lebensmittelchemie hat.

Die sozialen und psychologischen Aspekte

Übergewicht ist nicht nur eine physische Herausforderung, sondern auch eine psychologische und soziale. Die Stigmatisierung von übergewichtigen Menschen ist in vielen Bereichen des sozialen Lebens präsent und kann sogar zu Diskriminierung führen. Darüber hinaus erschweren Selbstwertprobleme und sozialer Druck den Weg zu einem gesünderen Lebensstil.

Der tägliche Kampf gegen Vorurteile und körperliche Einschränkungen hält viele Menschen mit Übergewicht oder Adipositas in einem Kreislauf von Stress, Depression und sozialer Ausgrenzung gefangen. Diese Probleme ziehen weitreichende Konsequenzen nach sich, die das Leben der Betroffenen nicht nur körperlich, sondern auch psychisch stark beeinträchtigen. Oft kämpfen sie mit tiefgreifenden psychischen Belastungen, die aus der ständigen Konfrontation mit Vorurteilen und Ausgrenzung resultieren.

Bewusstsein und Prävention

In Deutschland zeichnet sich eine besorgniserregende Gesundheitskrise ab, die mehr als nur einfache Antworten oder Willensstärke erfordert. Wir stehen vor der gewaltigen Herausforderung des Übergewichts und der Adipositas – ein Problem, das in seiner Komplexität und Tiefe beispiellos ist.

Es ist ein Irrglaube, dass bloßes Kalorienzählen oder verstärkte Selbstkontrolle die Lösung sind. Nein, dieser Gesundheitsnotstand ist vielschichtig, verwurzelt in einer Vielzahl von Faktoren, die von persönlichen Lebensbedingungen bis hin zu übergeordneten gesellschaftlichen Strukturen reichen.

Was wir brauchen, ist ein revolutionärer, ganzheitlicher Ansatz. Ein Ansatz, der über die Grenzen der Ernährung hinausgeht und psychologische, soziale sowie umweltpolitische Faktoren berücksichtigt. Wir müssen erkennen, dass die Bekämpfung von Übergewicht und Adipositas nicht nur eine Frage der individuellen Gesundheit ist, sondern auch eine der gesellschaftlichen Verantwortung. Indem wir diesen umfassenden Ansatz verfolgen, haben wir die Chance, nicht nur die Verbreitung von Übergewicht effektiver zu bekämpfen, sondern auch die Qualität unserer Lebensmittel zu verbessern und einen positiven Einfluss auf die Gesundheit unserer Umwelt auszuüben. 

Quellen:

  1. NCD Risk Factor Collaboration (NCD-RisC) (2016):Trends in adult bodymass index in 200 countries from 1975 to 2014: A pooled analysis of 1698 population-based measurement studies with 1902 million parti- cipants.The Lancet; 387(10026): 1377–1396
  2. OECD:The Heavy Burden of Obesity –The Economics of Prevention. 10. Oktober 2019. https://www.oecd- ilibrary.org/sites/67450d67-en/index.html?itemId=/content/publication/67450d67-en&mimeType=text/ html (abgerufen am 23.03.2020).
  3. https://www.sciencedaily.com/releases/2013/01/130131083755.htm
  4. https://www.oecd-ilibrary.org/sites/6cc2aacc-en/index.html?itemId=/content/component/6cc2aacc-en
  5. https://adipositas-gesellschaft.de/ueber-adipositas/kosten-der-adipositas-in-deutschland/
  6. Johnson PM, Kenny PJ. „Dopamine D2 receptors in addiction-like reward dysfunction and compulsive eating in obese rats.“ Nat Neurosci. 2010 May;13(5):635-41
  7. Kenny PJ. „Common cellular and molecular mechanisms in obesity and drug addiction.“ Nat Rev Neurosci. 2011 Oct 20;12(11):638-51. doi: 10.1038/nrn3105